Präzisionswerkzeug für die Energiepolitik

Modellierungsplattform Nexus-e der ETH Zürich

Präzisionswerkzeug für die Energiepolitik

Modellierungsplattform Nexus-e der ETH Zürich

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Mit der Dekarbonisierung und Dezentralisierung der Energieproduktion steht die Schweiz in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor zwei Mammutaufgaben. Die ETH Zürich hat mit Nexus-e eine Modellierungsplattform entwickelt, die Szenarien für den Strombereich erstellt und damit Grundlagen für politische Weichenstellungen und Investitionsentscheide schafft.


Autor: Dr. Benedikt Vogel, im Auftrag des Bundesamtes für Energie (BFE)

Redaktionelle Bearbeitung: eTrends


Um die Gefahren des Klimawandels zu bannen, setzte der Bundesrat im August 2019 das Netto-Null-Ziel fest: Die Schweiz soll bis im Jahr 2050 den Ausstoss von Treibhausgasen umfassend reduzieren und dann nur noch so viel klimaschädliche Gase ausstossen, wie technische und natürliche Speicher aufnehmen können. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, muss der in der Energiestrategie 2050 vorgezeichnete Weg konsequent umgesetzt werden. Dazu gehören griffige Effizienzmassnahmen und der Ausbau erneuerbarer Energiequellen wie beispielsweise die Photovoltaik. Gerade im Strombereich sind die Ziele hoch gesteckt, denn mit dem Abschalten der Kernkraftwerke fällt rund ein Drittel der inländischen Stromproduktion weg. Dabei ist die Elektrizität ein Energieträger, der als Schlüssel für die Dekarbonisierung des Energiesystems gilt.

Von Atom zu Solar

Bis heute ist die Atomkraft ein Standbein der Schweizer Stromversorgung. Mit der Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien könnte der Photovoltaik künftig eine führende Rolle zukommen. Ende 2019 waren in der Schweiz rund 100 000 PV-Anlagen am Netz und lieferten 2400 Gigawattstunden (GWh) Strom. Sie trugen rund vier Prozent zum Schweizer Stromverbrauch bei.

ETH-Team entwickelt innovatives Modell

Damit der Umbau des Energiesystems gelingt, braucht es Szenarien für die künftige Entwicklung der Energieversorgung und Analysen zu den Auswirkungen von technischen, ökonomischen und regulatorischen Veränderungen. Grundlage dieser Zukunftsentwürfe sind Modelle, die das Energiesystem und seine Einflussfaktoren möglichst genau abbilden. Die Modelle umfassen Bereiche wie Mobilität, Strom und Wärme. Für jeden dieser Bereiche errechnen Expertinnen und Experten, wie sich die Nachfrage entwickelt, aber auch, wie die Nachfrage gedeckt wird und welches die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind. Damit die so entwickelten Szenarien möglichst aussagekräftig sind, werden die zugrundeliegenden Modelle ständig angepasst und verbessert.

Modelling the future electricity system. (Videoquelle: Youtube-Kanal ETH News for Industry)

Zu diesem Zweck haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Eidgenössisch Technischen Hochschule (ETH) Zürich in den letzten sechs Jahren mit Unterstützung des Bundesamts für Energie (BFE) eine neue Modellierungsplattform entwickelt. Die Plattform mit dem Namen Nexus-e bezieht sich auf den Stromsektor. «Gerade in diesem Sektor werden mittelfristig wichtige regulatorische Fragen zu beantworten sein, etwa zu Ausbau, Förderung und Integration der erneuerbaren Energien bzw. zum Strommarktdesign, aber auch zur Frage, wie sich genug Flexibilität im Energiesystem sicherstellen lässt; Nexus-e stellt ein Werkzeug zur Verfügung, das bei der Beantwortung dieser Fragen helfen kann», sagt Dr. Anne-Kathrin Faust, Ökonomin und Leiterin des BFE-Forschungsprogramms «Energie – Wirtschaft – Gesellschaft».

Die Politik braucht Energieperspektiven

Szenarien, wie sie von Nexus-e bereitgestellt werden, bilden eine Grundlage für politische Massnahmen zur künftigen Ausgestaltung der Schweizer Energieversorgung. Szenarien für den Strombereich, aber auch für die weiteren Sektoren der Energieversorgung bilden denn auch das Rückgrat der «Energieperspektiven», die das BFE jeweils im Abstand mehrerer Jahre erarbeiten lässt. Letztmals war dies Ende November 2020 der Fall: Die «Energieperspektiven 2050+» zeigen auf, wie die Schweiz bis im Jahr 2050 eine klimaneutrale und versorgungssichere Energieversorgung erreichen kann. Sie wurden von einem Konsortium bestehend aus den Firmen Prognos AG, TEP Energy GmbH, Infras AG und Ecoplan AG erarbeitet. BV

Fünf Teilmodelle zusammengefügt

Die Gestaltung der «Stromzukunft» der Schweiz beschäftigt Behörden und politische Entscheidungsträger, aber auch Energieversorger, die nationale Netzgesellschaft Swissgrid, die Betreiber der Verteilnetze und auch etliche Industrieunternehmen. Sie alle bauen politische Weichenstellungen und Investitionsentscheidungen auf Szenarien. Um diese im Strombereich zu erstellen, existieren heute schon verschiedene Modelle. «Die Nexus-e-Plattform integriert fünf Teilmodelle, die für die Nachbildung eines Stromversorgungssystems unerlässlich sind», sagt Studienleiter Dr. Christian Schaffner, Executive Director des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich.

Die Teilmodelle, auf die sich Christian Schaffner bezieht, sind: a) ein Modell für Investitionen in grosse Produktionsanlagen wie Wasser-, Kern- und Gaskraftwerke, b) ein Modell für Investitionen in dezentrale Kraftwerke für erneuerbaren Strom (z.B. Photovoltaikanlagen), c) ein Modell des Strommarktes, d) ein Modell mit aktuellen Daten für 77 Sektoren der Schweizer Volkswirtschaft, das unter anderem die Auswirkungen der Stromproduktion auf die Kosten von Waren und Dienstleistungen beschreibt, e) ein Versorgungssicherheitsmodell, das nicht nur Massnahmen zur Vermeidung von Fehlfunktionen bei Stromproduktion und -verteilung einbezieht, sondern auch erforderliche Ausbauschritte des Übertragungsnetzes.

Die Verknüpfung der fünf Teilmodelle verleiht Nexus-e eine besondere Aussagekraft. So können beispielsweise Preisentwicklungen besser abgeschätzt werden, weil die gegenseitige Abhängigkeit von Strompreis und Stromnachfrage im volkswirtschaftlichen Modell berücksichtigt wird. Das hilft etwa bei der Beantwortung der Frage, welche Subventionen zur Förderung erneuerbarer Energien zielführend sind. «Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass wir ökonomische und technische Aspekte in unserem Modell in neuartiger Weise verbinden und damit die Wechselwirkungen zwischen Energiesystem und Volkswirtschaft verlässlicher beschreiben können», sagt ETH-Wissenschaftler Marius Schwarz, Projektmanager von Nexus-e.

Die Modellierungsplattform Nexus-e integriert fünf Teilmodelle
Übersicht Energiesystem Nexus-e stellt das Energiesystem der Schweiz in einen europäischen Zusammenhang. Im Bild: Schematische Darstellung des landesweiten Stromübertragungsnetzes. (Grafik: Schlussbericht Nexus-e)

Das Energiesystem braucht Flexibilität

Nexus-e hat sein Potenzial bereits unter Beweis gestellt. So wurde eine Reihe von illustrativen Testszenarien durchgerechnet, die mögliche Entwicklungswege des Schweizer Stromsystems bei einem Ausstieg aus der Kernenergie ausloten. Ein Schwerpunkt der Arbeit lag auf der Frage, wie zentrale und dezentrale Technologien künftig eingesetzt werden können, um die im Jahres- und Tagesverlauf stark schwankende Solarstrom-Produktion so auszugleichen, dass eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung gewährleistet ist. Die mit Nexus-e erstellten Szenarien quantifizierten die Beiträge von Pumpspeicherwerken oder von mit Batterien ausgerüsteten PV-Anlagen mit hoher zeitlicher Auflösung (stündlich), ebenso die Beiträge der Verbrauchssteuerung durch Lastmanagement (Demand Side Management/DSM). Im Rahmen des Projekts rechneten die ETH-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler ferner Szenarien für den Ausbau der neuen erneuerbaren Energien in der Schweiz, wobei der Photovoltaik die Rolle zufiel, mittelfristig den wegfallenden Atomstrom zu ersetzen.

Nexus-e dient unterdessen als Modellierungsplattform in verschiedenen laufenden Forschungsprojekten, die oft interdisziplinären Charakter haben. So untersucht ein Team um den Verfahrenstechniker und ETH-Professor Marco Mazzotti, welchen Beitrag die energetische Nutzung von Biomasse mit anschliessender Abscheidung des dabei entstehenden CO2 zur Erreichung des Netto-Null-Ziels leisten könnte. Ein anderes Projekt erforscht, wie und bei welchen Kosten das Netto-Null-Ziel bereits bis 2040 erreicht werden könnte (und nicht erst bis 2050, wie vom Bundesrat angepeilt). Wissenschaftler um ETH-Klimaschutz-Professor Anthony Patt nutzen dafür Nexus-e und Calliope, ein ebenfalls an der ETH entwickeltes, europaweites Energiesystemmodell. All diese Projekte führen vor Augen, wie Nexus-e der Energieforschung neue Impulse verleiht und damit auch im akademischen Kontext einen greifbaren Nutzen entfaltet.

Eine Plattform für die Öffentlichkeit

Nexus-e wird fortlaufend an die politischen Rahmenbedingungen angepasst. So war in der ursprünglichen Version der Plattform das Netto-Null-Ziel des Bundesrates noch nicht enthalten. Mit diesem strategischen Ziel wird die Nachfrage nach (nichtfossil erzeugtem) Strom etwa für Elektroautos und Wärmepumpen nun nochmals deutlich zunehmen, auch erhöht sich der Druck, fossile Kraftwerke stillzulegen, was über den EU-Grosshandelspreis für Strom direkt auf die Schweiz zurückwirkt. Solche Effekte sind wichtig und werden von Nexus-e künftig mit in die Modellierung einbezogen.

Die Ergebnisse von Nexus-e kommen der Allgemeinheit zugute. In naher Zukunft könnte es sogar möglich werden, dass interessierte Personen die Plattform direkt selber nutzen. Die Nexus-e-Verantwortlichen planen nämlich, die Plattform in einem nächsten Schritt vollständig zu öffnen. Damit könnten Studierende, Forschende und interessierte Industriepartner die Plattform für eigene Projekte einsetzen.


ETH-Wissenschaftler Dr. Christian Schaffner und Marius Schwarz
Die Köpfe dahinter ETH-Wissenschaftler Dr. Christian Schaffner (links) hat das Projekt Nexus-e geleitet. Marius Schwarz ist der verantwortliche Projektmanager.

Hoher Datendurchsatz

Die Modellierungsplattform Nexus-e wurde von einem elfköpfigen Team des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich entwickelt. Das ESC ist ein 2005 gegründetes Kompetenzzentrum, das Forschung und Lehre im Bereich Energie interdisziplinär und departementsübergreifend organisiert. Für die Erstellung der Szenarien nutzt Nexus-e den Euler-Hochleistungsrechner-Cluster der ETH Zürich in Lugano. Dank der grossen Rechnerkapazität und dank Software-Optimierungen konnte die Rechenzeit für die Szenarien von Tagen auf Stunden verkürzt werden. 


Weitere Infos und Kontakte

Die Webseite www.nexus-e.org stellt aktuelle Projekte vor und bietet ein interaktives Visualisierungstool, das die Ergebnisse der Modellierungen veranschaulicht und einen Datenpool öffentlich zugänglich macht.

Der Schlussbericht zum BFE-Pilotprojekt «Nexus-e: Integrated Energy Systems Modelling Platform»

Auskünfte zu dem Projekt erteilt Dr. Anne-Kathrin Faust (anne-kathrin.faust@bfe.admin.ch), Leiterin des BFE-Forschungsprogramms «Energie – Wirtschaft – Gesellschaft (EWG)».

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